Italienische Rebsorten
Knapp die Hälfte der 350 bekannten Varietäten besitzt derzeit keine kommerzielle Bedeutung mehr. Als Folge der fortschreitenden Verbreitung internationaler Sorten wie Chardonnay, Sauvignon, Merlot, Syrah und Cabernet Sauvignon – auch in Italien sind sie nur noch in kleinen Mengen vorhanden. Viele kämpfen ums Überleben. Deshalb machen sich Rebenforscher, Politiker und Weingutsbesitzer Gedanken um das 'ampelografische Erbe' ihres Landes, so Giuseppe Martelli, Präsident der Vereinigung italienischer Önologen und Kellertechniker (Assoenologi). Den Rebschatz zu erhalten und zu erforschen, besitzt hohe Priorität im zweitgrößten Weinproduktionsland der Welt. Mehrere staatliche und private Projekte sind initiiert worden, um die alten, autochtonen Reben zu erhalten und auf ihr qualitatives Potenzial hin zu untersuchen. Ziel: Die hochwertigen Sorten zu selektieren, um verstärkt Weine mit Bezug zu ihrer Herkunft, zur Geschichte, zur Kultur zu fördern und sich so von unzähligen anonymen Weinen unterscheiden zu können, die heute vor allem aus den osteuropäischen und überseeischen Ländern kommen. 'Die Konsumenten erwarten, daß der Wein eine territoriale Identität besitzt', formuliert Martelli programmatisch. Sind es doch Rotweine aus Sorten wie Aglianico und Nero d’Avola aus Süditalien, wie der Sagrantino aus Umbrien oder wie der Südtiroler Lagrein, die in der Weinwelt heute schon unverwechselbare Akzente setzen. Und auch bei den Weißen hat Italien hochklassige, unimitierbare Weine im Sortiment wie Greco, Fiano und Falanghina aus Kampanien oder wie Friulano (Tocai) und Ribolla aus dem Friaul. Martelli: 'Wir merken schon heute, daß die internationalen Märkte Italiens Bemühungen honorieren, hochwertige Weine aus eigenen, autochthonen Rebsorten zu erzeugen.'
Die Bezeichnung autochthon kommt aus dem Griechischen und enthält das Wort 'chton' = Erde. Autochthon bedeutet also 'bodenständig', 'an Ort und Stelle entstanden'. Autochthone Reben sind also einheimische Sorten, die seit langer Zeit in einem bestimmten Anbaugebiet einer bestimmten Region kultiviert werden. Sie haben sich an den Boden und an die klimatischen Bedingungen angepaßt. Sie haben bewiesen, daß sie in dem betreffenden Bereich besonders gute Weinqualitäten ergeben. Mehr noch: Häufig hat der Wein, der aus ihnen gewonnen wird, dem Gebiet ein Gesicht gegeben. Er hat seine Landschaftsgestalt geformt (Valtellina, Südtirol, Toskana), hat seine Kultur geprägt (Handwerk, Naturkenntnis, Bräuche), die Kunst beeinflußt (wie etwa das bacchantische Element in zahlreichen Renaissance-Fresken und –Gemälden zeigt). Besonders augenfällig sind die Verbindungen zwischen lokalem Wein und lokaler Küche (Barolo/Trüffel; Lambrusco/Mortadella; Vin Santo/Cantuccini; Lacryma Christi/Pizza). Ohne den Wein und seine Verwurzelung an einem bestimmten Ort wären viele lokale Gerichte und Spezialitäten vermutlich bis heute unentdeckt geblieben. Das heißt: Erst wenn ein Landstrich mit einer Rebsorte bzw. einem Wein identifiziert wird, kann man von territorialer Identität sprechen. 'Wer eine Flasche Chianti öffnet, denkt an die Toskana', heißt es zum Beispiel in dem Büchlein 'Vini Buoni d’Italia', laut Untertitel 'der erste Führer der autochthonen italienischen Rebsorten'. Ähnlich könnte man formulieren: Wer einen Barolo vor sich hat, fühlt sich ins Piemont bzw. in die Langhe versetzt. Wer Verdicchio sagt, meint die Marken. Wer Nero d’Avola trinkt, weiß sich in Sizilien. Wer an Primitivo denkt, denkt an Apulien.
Viele italienische Rebsorten sind seit 200 Jahren und länger in bestimmten Gegenden im Anbau. Reicht das aus, um von Bodenständigkeit zu sprechen? Oder muss eine Rebe 1000, gar 2000 Jahre lang nachgewiesen sein, um als autochthon zu gelten? Die Frage kann weder wissenschaftlich beantwortet noch das Problem per Gesetzesdekret gelöst werden. Entscheidend ist, daß die Sorte seit langer Zeit – in Expertenrunden ist oft von 200 Jahren die Rede an Ort und Stelle vorhanden ist und sich gegen alle Versuchungen, marktgängigere oder modischere Sorte zu pflanzen, behauptet hat.
Autochthon bedeutet nicht, daß auch der Ursprung der Reben in dem Anbaugebiet selbst liegen muss, für das sie heute repräsentativ sind. Oft sind sie über Umwege dorthin gelangt. Außerdem wissen wir, daß fast alle Varietäten, die in Italien angebaut werden, aus Griechenland stammen. Griechische und phönizische Kaufleute hatten sie, als sie zwischen 700 bis 300 Jahre v. Chr. den Mittelmeerraum besiedelten, aus ihrer Heimat mitgebracht und in ihren neuen Kolonien in Sizilien und in Süditalien ausgepflanzt. In 'Magna Graecia', wie die Kolonien damals hießen, haben diese Reben ein neues Habitat gefunden und sind, sofern sie den natürlichen Ausleseprozeß bis in die Gegenwart überstanden haben, zu eigenständigen Sorten mutiert. - Gerardo [TS07/22]